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Die verblassenden Farben des Erinnerns

Leseprobe aus 'Stellas Jugend' oder 'Die Rückseite des Bildes'

Als letzte Handlung in meinem, in unserem Haus, das ich meiner Frau überlasse, schraubte ich zwei Bretter der Verkleidung an der Dachschräge meines leergeräumten Arbeitszimmers ab. Hier hatte ich beim Bau des Hauses unser Bild versteckt.
Der Portier des kleinen Hotels schüttelte damals den Kopf – was will der bloß mit diesem Schinken, einem röhrenden Hirsch am Waldrand?
Doch es ist die Rückseite dieses Bildes, für welche ich zwanzig Mark über den Tresen schob. Reicht das? Und ich hätte noch mehr gegeben, alles, was ich hatte. Dieses Bild musste ich unbedingt mitnehmen.
Jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, sah ich mit schmerzender Seele auf diese Rückseite. Die Spur ihrer Tränen hatte mit dem Lippenstift Kristalle gebildet. Und mir liefen die Tränen, genau wie ihr und mir damals, an diesem unvergesslichen Morgen.
Aber lasst mich diese Geschichte ganz vom Anfang, vom ersten Augenblick an erzählen.

Jung war ich, herrlich jung und unbeschwert, das Leben war von bezaubernder Leichtigkeit. Gleich nach dem Abitur kraxelten wir, zwei Freunde und ich, vier Wochen lang in den Alpen herum. Alles Zurückliegende hatten wir abgestreift, abgeworfen, waren voller Kraft und Tatendrang und in prächtiger Stimmung. Noch dazu nahmen uns oberbayerische Maiden, zum Verdruss der männlichen Dorfjugend, reichlich in Anspruch. Hier nippte ich zum ersten Mal am prickelnden Kelch voll intimer Zweisamkeit.

Herrliches Sommerwetter – die Sonne beherrschte die Tage bis zur Stunde unseres Abschieds. Doch genau in dieser Stunde forderte die Hitze der letzten Wochen Tribut. Der Himmel nahm eine Farbe an, als wolle sich ein Unwetter mit der Nacht messen. Ich rannte zum Bahnhof, viel früher als nötig. Auf den letzten Metern schon erste dicke Tropfen spürend, erreichte ich das schützende Dach.
In der kleinen, schauerlich finsteren Wartehalle hörte ich den Regen wütend aufs Dach prasseln. Der düstere Raum war menschenleer, jedenfalls beinahe. Ich konnte nur diese eine Gestalt auf der Bank mir gegenüber, in einen Mantel gehüllt, vielleicht drei, vier Meter entfernt, ausmachen. Auch, als sich meine Augen auf die Dunkelheit eingestellt hatten, blieb sie verschwommen, undeutlich. Eine Frau – mehr sah ich nicht.

Ganz plötzlich drang schwaches Licht durch die milchige Scheibe des schmalen Fensters über mir. Der Scheinwerfer eines Fahrzeugs schickte von der Kurve am Bahnhof, seinen Lichtkegel bis in diesen Raum. Nur für einen Augenblick wanderte ein kleiner heller Strahl durch die Finsternis. Und der traf für einen Moment genau auf diese Frau. Es zeigte sich nur das Gesicht einer offensichtlich jungen Frau, alles andere blieb im Dunkeln. Dieser kurze Anblick bot etwas Faszinierendes. Ein Gesicht, ausgeprägt schön, glatt und hell. Dieses trübe Licht ließ ihr Antlitz erscheinen, wie in Marmor gehauen. Bald folgte ein weiterer Lichtstrahl, und ich sah ganz konzentriert genau dorthin. In diesem kurzen Moment erschrak ich. Ein ungemein trauriger Blick blieb in dieser Sekunde an mir haften. Etwas Beklemmendes, das mich wie ein Hilferuf traf. Doch sofort waren diese schwermütigen Augen wieder von der Dunkelheit verschluckt. Beim nächsten Lichtschein schien ihr Blick durch die trübe Scheibe, durch die Mauer, in traurige Ungewissheit gerichtet.

Nach und nach füllte sich die kleine Bahnhofshalle. Die Ankommenden schüttelten im dämmrigen Licht den Regen von Schirmen und Mänteln.
Die junge Frau war aufgestanden, verließ den Warteraum. Ich bemerkte dies erst im letzten Moment, nahm schnell mein bescheidenes Gepäck auf.
Obwohl ich nur wenig später draußen war, konnte ich sie vor Einfahrt des Zuges nirgendwo finden. Eigentlich hatte ich sie im dumpfen Licht gar nicht richtig gesehen, nur ganz kurz ihr Gesicht. Doch ihre Augen würde ich wahrscheinlich unter hunderten erkennen. Noch immer hielt mich dieser unbeschreiblich traurige Blick gefangen. Ich hastete den Bahnsteig entlang, sah mich genau um, fand die junge Frau jedoch nicht wieder – vielleicht wollte sie gar nicht mit diesem Zug wegfahren, suchte in der Halle nur Schutz vor dem Regen?
Trotzdem durchkämmte ich den Zug in ganzer Länge. Im letzten Wagen angekommen, wieder retour, weiter in anderer Richtung. Ich stieg über Gepäckstücke, drängte mich an nörgelnden Reisenden vorbei, blickte durch die Scheiben in jedes Abteil, allein von dem Gefühl getrieben, sie noch einmal zu treffen.
Schließlich musste ich's aufgeben. Das Abteil, in welchem ich einen Platz neben der Tür fand, war nur schwach erhellt. Soweit ich sehen konnte, waren beide Fensterplätze von Damen belegt, mir gegenüber saß ein korpulenter Herr, der die restlichen freien Plätze für sein Gepäck beanspruchte.
… … …

Plötzlich schob die Person in der Ecke am Fenster den Mantel beiseite. Es war, als würde ein Schleier gelüftet, aber nur für zwei, drei Sekunden. Ich erschrak – sie war es! Es war die junge Frau aus der Wartehalle.
Ihr erster Augenaufschlag strich am Bayern vorbei und blieb einen Moment an mir hängen, und es war derselbe unfassbar traurige Blick, der mich bereits in der Bahnhofshalle berührt hatte. Und wieder schien dieser in eine unergründliche Ferne zu reichen, in eine andere Welt zu fliehen. Dennoch glaubte ich, diese Augen hätten einen winzigen Moment bei mir Halt gesucht, bevor sie weitertrieben – und wieder mein Empfinden, als läge darin etwas von einem Hilferuf.
Ihr helfen – aber, wie könnte ich? Sie hatte sich sofort wieder hinter ihrer Jalousie verschanzt.
… … …

Auf dem Gang zog ich das Fenster herunter, konnte sehen, dass wir auf freier Strecke stehen, an einer ziemlich engen Stelle des Flusstales, dessen Windungen die Bahnstrecke hier folgt. Schwaden, satt vom Regen, stiegen aus der Schlucht auf.
… … …

Die Dame neben mir hatte ihr Buch längst sinken lassen, und auch ihr Gegenüber schob das Verdeck beiseite. Alle schauten sich fragend an. Die junge Frau tupfte sich verwischte Wimperntusche aus den Augen. Mir schien, als hätte sich ihre Starre, dieses Unbeteiligte gelöst. Sie richtete ihren Blick auf mich, eine ganze Weile auf mich, als hätte sie mich eben erst wirklich wahrgenommen.
… … …

Allen Reisenden in Richtung München wurde empfohlen, hier abzuwarten, in zwei bis drei Stunden könnte die Strecke wieder befahrbar sein. Mich trieb nichts, was sollte ich auch unternehmen, außerdem machte auch die junge Frau keine Anstalten, auszusteigen. Sie verharrte stumm in ihrer Ecke. Als der Schaffner vorbeikam, erkundigte sie sich nach Zugverbindungen zurück in Richtung Alpen. Ich wartete draußen auf den Gang, sah auf den Bahnsteig hinaus und immer wieder zu meiner Abteiltür. Ich wollte die Schwermütige auf gar keinen Fall aus dem Auge verlieren, obwohl ich nicht recht wusste, weshalb ich das wollte oder sollte. Wir hatte nicht ein Wort miteinander gesprochen. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie ich ihr näherkommen, ihr vielleicht helfen könnte. Jedoch irgendwas wollte mich nicht mehr loslassen.

Als ich nach einer Weile ins Abteil zurückkam, traute ich meinen Augen kaum und konnte meine Überraschung nicht verbergen. Jetzt fand ich gewissermaßen eine Andere vor. Während sich die junge Frau vorher schweigsam hinter ihrem Mantel versteckt, ja regelrecht eingeigelt hatte, ließ sie plötzlich alles an sich sprechen. Sie war total verwandelt.
Wie darf ich es bezeichnen? In eine elegante Dame, in eine reizvolle Frau, in ein rassiges Weib?
Will sie mit all ihren Reizen Signale aussenden? Und an wen? Ich war als einziger in ihrer Nähe geblieben.
War mir anfangs ihr Äußeres angesichts ihrer Jugend viel zu bieder erschienen, so hatte sich das erstaunlich gewandelt. Das Strenge, das allzu Sittsame hatte sie abgeworfen. Das kastanienbraune Haar, vorher brav geknotet, glitt ihr weit über die Schultern herab. Die zuvor hochgeschlossene Bluse stand reichlich offen. Über dem Ansatz ihrer Brüste war ein schmales, silbernes Kreuz am dünnen Kettchen zu sehen. Anstatt der trutschigen Schuhe trug sie jetzt elegante Pumps mit halbhohem Absatz. Die langen, schlanken Beine übereinandergeschlagen – eine Augenweide. Besonders faszinierte mich die Wandlung ihres Angesichts. Ihr Teint hatte etwas Farbe angenommen, ein Hauch Schminke verlieh den Lippen und ganz besonders ihren Augen etwas Bestechendes. Nunmehr war das Schwermütige aus diesen Augen gewichen. Tiefbraune Augen, deren Ausdruckskraft ich erst jetzt richtig wahrnahm. Ihr Blick dagegen wirkte auffallend unruhig.
Dennoch sah sie mich fest, fast herausfordernd an, setzte sich aufrecht, sehr gerade, räusperte sich einmal und noch einmal. Dann hörte ich zum ersten Mal ihre Stimme, eine überaus wohlklingende Stimme. Diese setzte zwar zögerlich an, gewann aber gleich an Kraft. Und ich vernahm ihre ersten Worte wie in Trance.
"Gefalle... gefalle ich dir? ...Könntest du mich lieben?"

Diese wenigen Sekunden, die vergingen, bis sie durchaus beherzt fortfuhr, versuchte ich mich aus der Entrückung zu lösen. Es gelang mir nicht, etwas zu sagen, zu antworten, obwohl es wirklich nur eine Antwort gab.
"Verzeih, dass ich so direkt bin, dich duze...ich bin Stella."
Jetzt räusperte sie sich wieder und holte tief Luft, als müsse etwas Schweres aus ihr heraus.
"Aber ich habe keine Zeit zu verlieren…mir bleibt nur noch eine Woche."
Mir bleibt nur noch eine Woche! Wer kann, wer darf so etwas sagen?
Diese Worte hielten mich erst recht in der Erstarrung. Ein Gefühl kroch in mir herauf, welches ich bis dahin nicht gekannt hatte und welches ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Auch dieses Unheils-Szenario, welches in diesen Sekunden durch mein Hirn preschte.
"Du könntest doch auch später nach München fahren...eine Woche später!" Ihre Augen waren jetzt groß und glänzend, und es lag etwas Erwartungsvolles darin.
"Würdest du diese eine Woche mit mir verbringen?"
Ich war nicht imstande zu antworten.
Dieses ‚Mir bleibt nur noch eine Woche!' hallte es in meinem Kopf nach.
In ihrem Blick lag jetzt ein wenig Bange, vielleicht doch enttäuscht zu werden.
"Ich bin…ich heiße Hannes", war das erste, was ich stammelte und versuchte ein Lächeln.
Doch das ‚Mir bleibt nur noch eine Woche!' wühlte weiter. Ich nahm nicht wahr, was sie noch sagte, fühlte mich so erregt, beinahe unwohl.
Und was mir jetzt durch den Kopf schoss:
Krank sieht sie nicht aus – keineswegs so, als müsse sie in einer Woche sterben – außerdem wüsste dies doch niemand genau.
Vielleicht muss sie einsitzen, eine ziemlich harte Strafe antreten? Absurd – so kommt sie mir nicht vor. Da müsste ich mich gewaltig getäuscht haben.
Was lag in diesem traurigen Blick, der sie noch kurze Zeit vorher beherrscht hatte?
Jetzt überspielt sie etwas, rennt dagegen an, will es verdrängen, dies eine Woche lang vergessen.
Mir bleibt nur noch eine Woche!? Eine schwere Operation?
Ein Eingriff, bei dem die Chance schlechter als Fünfzig zu Fünfzig steht? Weshalb nur noch eine Woche?
Ich muss sie fragen, selbst wenn mich die Antwort vollends aus dem Gleichgewicht bringt.
Doch Stella kam mir zuvor. Wahrscheinlich angesichts meiner Blässe sagte sie mit einem Lächeln:
"Nein, so schlimm ist es nicht... ich wollte dich nicht erschrecken."
Und nach einer Weile setzte sie etwas nachdenklich, aber klar und deutlich hinzu: "Ich muss nur heiraten."
Ich muss nur heiraten! Zwar überwog das Gefühl der Erleichterung, aber ich spürte auch Missbehagen wegen der Unruhe, die mich deswegen befallen durfte.
Heiraten. Ich dachte immer, heiraten wäre für eine junge Frau etwas Wünschenswertes, das eher freudige Erwartungen erweckt. Und wie ein Teenie, ungewollt schwanger und gar nicht heiratswillig, wirkt sie nie und nimmer.
Ich muss nur heiraten! Wieder wirbelte allerhand durch mein Hirn.
Vielleicht eine ganz und gar Ausgeschlafene, ein Biest, das sich noch einmal austoben möchte, bevor der sichere Hafen angelaufen wird.
Noch mal richtig ausflippen. Und ich komme ihr gerade gelegen.
Miese Fantasien streiften mich, welche überhaupt nicht ins Bild passten.
Wir saßen eine Weile wortlos im düsteren Abteil.
Ich muss nur heiraten! Ich war jetzt erst recht nicht fähig, etwas zu sagen, schüttelte den Kopf, schaute zum Fenster hin und dann in ihr Gesicht. Doch sie wich meinem Blick nicht aus, auch wenn sie in meinen Augen meine grotesken Gedanken zu lesen schien.
"Ich muss dir etwas erzählen..."
Tischt dir eine Durchtriebene jetzt ein rührseliges Märchen auf?
Sie hielt wieder inne, als würde sie die Gedanken sammeln, konzentriert einen Ausgangspunkt anpeilen. Jetzt tat mir jeder geringschätzige Gedanke leid, da ich spürte, wie sie mit den gleichen, schweren Gefühlen rang, von welchen ich glaubte, dass sie diese gerade abgeschüttelt habe.
"Ich muss dir etwas erzählen… nur so ist vielleicht zu begreifen, was ich gerade gesagt habe."
Jetzt blickte sie eine Weile wieder nachdenklich zu etwas scheinbar unendlich weit Entfernten.
"Am besten, ich fange ganz vorn an. Nur dann ist vielleicht alles zu verstehen", sagte sie endlich, und dabei waren ihre Augen ins Ernste, Traurige zurückgefallen.
Dann begann sie mit ihrer Geschichte, zunächst etwas verhalten, dann immer flüssiger, manches, was mir unwesentlich erschien, zumindest anfangs, schilderte sie beinahe nachdrücklich.

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