Die verblassenden Farben des Erinnerns

Ein Augenblick von Verwunderung in der kurzen Begrüßung.
"Lass dich anschauen, Mam… gut siehst du aus, wirklich gut",
und mit einem Blick auf die Tasche: "Willst du wegfahren…?"
Das Lächeln der Mutter und ihre Augen sagen der Tochter alles.
"Ja richtig… es ist Mai… dein Wochenende mit dem Geliebten!"
Das letzte Wort ist mit einem Hauch Ironie betont.
Der Geliebte empfängt sie mit Handkuss und einer roten Rose.
Als er ihr die Wagentür öffnet, hält er sie zurück, noch einen
Moment ihren Anblick genießend. Auch der besondere Glanz
ihrer Augen entgeht ihm nicht.
Jetzt noch eine halbe Stunde Fahrt zum kleinen Hotel auf halber
Höhe des Bergmassivs, wie in jedem Jahr für zwei Tage im Mai.
Der Seniorchef begrüßt sie warmherzig. Obwohl sie nur einmal
im Jahr hierherkommen, ist er im Bilde, weiß von der
Besonderheit ihres Besuches, vom Zauber, der diesem
Wochenende innezuwohnen scheint.
Doch von der geheimen Abmachung wissen nur die Liebenden.

"Hattest Du auch einen Kurschatten?"
Das war zwar nicht die erste Frage seiner Frau, als er von der
Kur zurückkam. Aber vielleicht die dritte oder vierte.
"Natürlich… keine Kur ohne Schatten… übrigens habe ich
den Schatten mit noch einem Mann geteilt."
Eine Frau und zwei Männer, zufällig bei den Mahlzeiten
am Tisch vereint, erzählen und hören am Abend Geschichten,
welche Empfindungen in großer Breite aufwirbeln.